Pflege in Zeiten von Corona: „Wir tun alles, damit unsere Bewohner weiterhin eine liebevolle und qualifizierte Betreuung erfahren“

Plötzlich bestimmte Corona den Alltag. Kinder konnten nicht mehr zur Schule gehen, Erwachsene fanden sich im Homeoffice wieder – und Seniorenheime wurden zu Hochrisikogebieten erklärt. Im Interview erklärt Monika Nirschl, Geschäftsführerin des Seniorendomizilbetreibers compassio, wie Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit der Situation umgehen, warum die Balance zwischen sozialer Teilhabe und Corona-Schutz so wichtig und Pflege so wertvoll ist.

Wie haben Sie die Corona-Krise in Ihren Einrichtungen gemeistert?

Monika Nirschl (50) ist Geschäftsführerin bei compassio und verantwortlich für 20 Seniorenheime in Bayern. Die diplomierte Ingenieurin blickt auf mehr als 20 Jahre praktische Erfahrung in der Langzeitpflege zurück. Die compassio GmbH & Co. KG Ulm ist mit über 3200 Mitarbeitern und 33 Seniorendomizilen in Deutschland ein expandierendes Dienstleistungsunternehmen im Bereich Seniorenpflege und -betreuung – und geschätzter Partner der ERL Immobiliengruppe.

Unsere compassio Einrichtungen konnten in der Krise bisher gut bestehen. Bei uns gab es in den zurückliegenden Wochen die gesamte Bandbreite an Situationen – Häuser, die betroffen waren von Covid-19-Ausbrüchen, Häuser mit Verdachtsfällen und glücklicherweise viele Häuser, in denen es bislang keine Vorkommnisse gab. Momentan hat sich die Lage entspannt. Dennoch tragen wir mit höchstem Engagement und größter Vorsicht dazu bei, dass eine erneute Verbreitung nach wie vor im Griff gehalten wird.

Ältere Menschen gehören zur Risikogruppe. Was heißt das für die Pflege?
Corona ist Bestandteil unserer neuen „Alltagsnormalität“. Wir haben uns frühzeitig intensiv mit der Pandemieplanung beschäftigt und in einem Krisenstab, der bis heute aktiv arbeitet, Schutzmaßnahmen für unsere Bewohner und Mitarbeiter auf den Weg gebracht. Auch befinden wir uns weiterhin in engem Austausch mit den Gesundheitsbehörden und den Landesbehörden und setzen deren Vorgaben sowie die des Robert-Koch-Instituts um.

Welche Schutzmaßnahmen haben Sie konkret getroffen?
Die Einhaltung von Hygieneregeln wie auch die Pflege mit Schutzbekleidung und Mund-Nasen Schutz ist gut eingeübt und inzwischen Normalität für die Mitarbeiter im Haus. Seit Anfang Mai sind Angehörigenbesuche zwar reglementiert, aber unter Wahrung von höchsten Schutzvorkehrungen wieder erlaubt. Das ist eine gute Entwicklung, die Bewohnern und Mitarbeitern guttut und ein kleines Stück Normalität in den Alltag zurückbringt. Hier gilt es, eine Balance zu finden zwischen den Bedürfnissen unserer Bewohner an sozialer Teilhabe und Alltagsnormalität gegenüber den Anforderungen des Infektionsschutzes.

Hatten Sie zu Beginn der Krise genug Schutzausrüstung zur Verfügung?
Aufgrund frühzeitiger Planung und vorausschauendem Einkauf, überregionalem Austausch innerhalb der Unternehmensgruppe sowie punktuellen Hilfen durch den Katastrophenschutz konnten wir Engpässe bei der Beschaffung von Schutzausrüstung so bewältigen, dass in den Einrichtungen die Pflege und Versorgung der Bewohner immer mit Schutzkleidung durchgeführt werden konnte. Für uns stand hier der Schutz unserer Bewohner und Mitarbeitenden immer an erster Stelle, so dass wir uns sehr freuen, dass dies gelungen ist.

Verwandtenbesuche sind wieder erlaubt. Wie waren denn die ersten Wiedersehen?
Mit der Lockerung des strengen Besuchs- und Betretungsverbotes seit Anfang Mai ist auch wieder ein kleines Stück neue Normalität zurückgekehrt. Unsere Bewohner genießen den Kontakt zu ihren nächsten Angehörigen, unter Einhaltung von Schutz- und Hygienevorkehrungen. Adhoc-Besuche sind aber – auch aufgrund der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen – leider nicht möglich.

Was ist möglich?
Die landesrechtlichen Bestimmungen geben klare Besuchsregelungen vor, die wir einhalten müssen. Jeder Bewohner darf einmal täglich von einer festen Person aus dem Kreis der Familienangehörigen besucht werden. Hierfür gilt eine feste Besuchszeit, die vorab mit der Einrichtungsleitung zu vereinbaren ist. Darüber hinaus müssen alle Besucher namentlich bei der Einrichtung registriert sein. Für die Besucher gilt eine Maskenpflicht und das Gebot, nach Möglichkeit durchgängig einen Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.

Wie organisieren Sie diese Besuche?
Wir haben ein entsprechendes Schutz- und Hygienekonzept ausgearbeitet und auf Einrichtungsebene mit den Gesundheitsbehörden abgestimmt. Wir bieten Spaziergänge, Gespräche im Garten oder in einem separaten Besuchszimmer an.

Wie schwer war es zu Beginn der Maßnahmen, den Bewohnern zu sagen, ihre Angehörigen dürfen sie nicht mehr besuchen?
Unsere Bewohnerinnen und Bewohner haben unter dem Besuchsverbot ihrer Angehörigen gelitten. Nähe und körperlicher Kontakt zu Bezugspersonen, insbesondere Kindern und Enkelkindern fehlte. Wir sorgen uns sehr gerade um unsere dementiell erkrankten Bewohnerinnen und Bewohner. Je nach Schweregrad der Erkrankung verlieren diese den Bezug zu ihren Lieben. Dennoch haben wir stets große Akzeptanz und Verständnis für die Maßnahmen erfahren.

Mit zusätzlichen Angeboten?
Unser Betreuungs-Team hat durch vielfältige Angebote an Betreuungsaktivitäten einzeln oder in Kleinstgruppen Abwechslung in den Alltag gebracht und sich intensiv um die Belange der Bewohner gekümmert. Das verschafft Linderung. Die regelmäßigen Besuche und die körperliche Nähe durch vertraute Personen, wie Ehepartner oder Kinder, können aber nicht ersetzt werden.

Gab es Feedback von Angehörigen?
Die Angehörigen haben überwiegend Verständnis für die einschneidenden, aber notwendigen Schutzmaßnahmen gezeigt und waren froh, dass wir diese auch so diszipliniert und verantwortungsvoll umsetzten. Und sehr erfreulich für unsere Teams in den schwierigen Wochen: Es gab vielfältige kleine Gesten, in denen Angehörige ihre Wertschätzung für unsere Arbeit zum Ausdruck gebracht haben. Von Süßigkeiten über Blumen, spendiertes Eis bis hin zu am Eingang angebrachten Dankespostern.

Überwiegt bei den Senioren die Angst vor Corona oder doch der Lebensmut?
Hochbetagte Menschen mit vielfältigen Erkrankungsbildern gehören zu den Bevölkerungsgruppen, die auf gesellschaftliche Solidarität angewiesen sind. Das gilt auch und insbesondere in Zeiten von Corona. Aber das darf nicht dazu führen, Menschen in ihren Rechten zur sozialen Teilhabe dauerhaft zu beschneiden. Unsere Bewohner haben großes Verständnis für die Vorkehrungen – wohlwissend, dass wir alle alles tun, um das Virus von unseren Einrichtungen fern zu halten. Sie haben die Situation mit einer Gelassenheit angenommen und die Notwendigkeit verstanden.

Und wie gehen die Mitarbeiter mit der Situation um?
Unsere Teams leisten seit Wochen großartige Arbeit. Alle arbeiten zusammen und haben einen enormen Zusammenhalt entwickelt. Diese Leistung und Einsatzbereitschaft machen uns in der Geschäftsführung stolz. Das Verständnis für die Schutzmaßnahmen war immer vollumfänglich vorhanden und was noch wichtiger ist, die Maßnahmen werden auch stringent angewendet. Als Team haben uns die Ereignisse weiter zusammengebracht.

Doch die Corona-Gefahr wird nicht einfach so verschwinden.
Die Corona-Lockerungen, die in allen Lebensbereichen nun wieder spürbar mehr Freiheit zurückbringen, sind trügerisch. Das Virus ist immer noch mitten unter uns und wird sich auch verbreiten, sollten die Hygiene- und Schutzmaßnahmen nicht weiter beachtet werden. Der effektivste Schutz, so die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts, ist die Einhaltung des Abstandsgebotes, das korrekte Tragen des Mund-Nasenschutzes sowie die Befolgung von Hygieneregeln. Zudem sollten soziale Kontakte weiterhin vorsichtig und mit Bedacht gepflegt werden – insbesondere auch dann, wenn man selbst mit Risikogruppen wie älteren Menschen Kontakt hat. Neben der Einhaltung der Nieß- und Hustenetikette gehört unbedingt dazu, bei Erkrankungen der Atemwege andere nicht zu gefährden und Kontakte zu meiden.

Also auf keinen Fall jetzt nachlässig werden?
Wir wissen alle, dass sich die aktuelle stabile Lage schnell wieder verändern kann. Pflegeeinrichtungen bleiben auch in Zukunft Hochrisiko-Zonen und Nährboden für das Virus. Wenn dieses den Weg in eine Einrichtung findet, dann ist eine Ausbreitung nur schwerlich zu verhindern mit entsprechenden Folgen. Genau diese Konsequenzen sind nicht mehr allgegenwärtig in den Köpfen der Menschen. Sollten wir jetzt nachlässig bei der Einhaltung der Schutzmaßnahmen werden, dann gefährden wir Risikogruppen.

Was heißt das für Seniorenheime?
Wir bleiben weiterhin vorsichtig. Pflege und Betreuungsmaßnahmen erfolgen wo erforderlich mit Schutzkleidung, Mund-Nasenschutz ist obligatorisch für alle Mitarbeiter und Besuche werden sinnvoll begleitet. Den weiteren Lockerungen sehen wir mit Spannung entgegen. Wir tun alles, damit unsere Bewohner in bewährter Weise eine liebevolle und qualifizierte Pflege und Betreuung erfahren. Gleichzeitig tragen wir Sorge und Verantwortung für die Sicherheit und Unversehrtheit der uns anvertrauten Menschen. Diesen Spagat tagtäglich zu meistern, ist Bestreben aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Deshalb appellieren wir an die vernünftige Weiterführung und Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen. Sie retten das Leben unserer Eltern und Großeltern.

Sind Quarantäne-Maßnahmen nötig?
Unsere Seniorendomizile sind gut gerüstet im Umgang mit dem Virus und setzen adäquate Schutz- und Hygienemaßnahmen um, um das Einbringen des Covid-19 Virus zu verhindern. Bewohner, die beispielsweise aus dem Krankenhaus in die Einrichtung zurückkehren, gehen in vorsorgliche Quarantäne im Einzelzimmer für die Dauer von 14 Tagen. Für die Lebensqualität und Lebensfreude unserer Bewohner ist es immens wichtig, dass wir dem menschlichen Grundbedürfnis nach sozialen Kontakten auch angemessen gerecht werden. Bei all den Sorgen, die damit verbunden sein werden. Aber das ist eine Abwägung, die momentan alle Altersgruppen betrifft, vom Kindergarten bis zur Pflegeeinrichtung. Wo menschliche Nähe besteht, gibt es Risiken.

Corona-bedingt wurde zuletzt viel über Altenpflege berichtet. Wie geht’s nach der Krise weiter?
Die sozialen Berufe wurden durch die Pandemie in den Mittelpunkt gerückt. Zuversichtlich bin ich, dass nach dieser Krise in der Öffentlichkeit ein anderes Bewusstsein vorhanden sein wird, wie wertvoll und wichtig die Pflege in diesem Land tatsächlich ist und man der Arbeit, die jeden Tag in bewundernswerter Weise geleistet wird, endlich die Wertschätzung und die Bedeutung beimisst, die sie verdient.

Wie könnte die aussehen?
Das bedarf mehr als Lippenbekenntnisse und Einmalbonuszahlungen, sondern auch die Fachlichkeit von Mitarbeitenden in Langzeitpflegeeinrichtungen zu sehen und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Schlussendlich muss die Gesellschaft definieren, was ihr in Zukunft eine gute Pflege wert ist.

DAS INTERVIEW FÜHRTE CHRISTIAN BÖHM